Stell dir vor, du bist auf einer Wanderung. Das Wetter ist genau nach deinem Geschmack – nicht zu heiss und auch nicht zu kalt. Das grüne Laub der Bäume raschelt leise im Wind, die Luft ist klar und frisch. Sie lässt dich tief durchatmen.
Dein Ziel ist der Wasserfall Erdbisenfuse. Du zückst dein Handy um die beste Route zu deinem Ziel zu finden. Doch – oh Schreck – kein Empfang! Zum Glück hast du Karte und Kompass mitgebracht und entdeckst den Weg, die dich zum Wasserfall führen soll.
Ein Stück weiter kommst du zu einem wunderschönen Platz mit einer tollen Aussicht. Nachdem du den Ausblick genossen hast, schaust du wieder auf dein Navigationsgerät. Komisch, er zeigt in eine komplett andere Richtung als zuvor!
Verwundert schlägst du den neuen Weg ein und gehst weiter. Nach einer Weile merkst du, wie sich ein Hungergefühl in deinem Magen breitmacht. Du packst deinen knackigen Apfel aus dem Rucksack und verspeist ihn genussvoll. AAAAH – besser!
Als du danach wieder deinen Kompass zu Rate ziehst, dreht er sich wie wild im Kreis. „Seltsam“ denkst du, während du ratlos einen Schluck Wasser trinkst. Ein weiterer misstrauischer Blick zeigt dir: dein störrisches Navi steht plötzlich wieder richtig. Na, dann kann’s ja weitergehen.
Was diese Geschichte mit Bedürfnissen zu tun hat?
Ganz einfach: Bedürfnisse sind wie die Nadel an deinem Kompass. Sei es Durst, Hunger oder auch das Bedürfnis nach Autonomie, Sicherheit, Nähe – all das sind Signale unseres Körpers oder unserer Psyche, die dir anzeigen, was du gerade brauchst und wo du hinwillst.
Doch sie können dich auch verwirren, wenn sie sich gegenseitig widersprechen, oder wenn sie nicht mit deinem Willen zusammenpassen. Dann kann dein Kompass verrückt spielen, was es nicht einfacher macht, den richtigen Weg zu finden.
Nach ein paar hundert Metern kommt dir ein älterer Wanderer entgegen. Ihr grüsst euch freundlich und du fragst ihn, ob das der richtige Weg zum Wasserfall sei. Ihr kommt ins Plaudern und er stellt sich vor: „Mein Name ist Maslow – Abraham Maslow.“ Er erklärt dir, dass der Weg zu deinem Ziel aus fünf Abschnitten besteht.
Den ersten – den der physiologischen Bedürfnisse hast du bereits hinter dich gebracht. Du hast deinen Hunger und Durst zuerst stillen müssen, bevor dich dein Kompass wieder die richtige Richtung gewiesen hat.
„Der zweite Wegabschnitt ist sehr steil und etwas gefährlich“ sagt er. „Du nutzt dort besser deine Wanderstöcke!“ Dir wird etwas mulmig, als du das hörst, Abraham lässt sich dadurch aber nicht in seinen Ausführungen beirren.
„Nach der schwindelerregenden Hängebrücke wird’s auf der dritten Etappe wieder gemütlicher. Nach einer Weile wirst du auf ein Waldhaus treffen. Dort trifft man eigentlich immer jemanden an, mit dem man sich ausruhen und sich unterhalten kann.“ Er streicht sich genüsslich über seinen grauen Schnurrbart, als er an seine letzte Pause zurückdenkt.
„Die vierte Etappe ist sehr relaxt.“ Du bist leicht irritiert über seine Wortwahl. „Ein Herr beachtlichen Alters – er muss weit über 100-Jährig sein – sagt relaxt? Nun ja, dem Akzent nach könnte er Amerikaner sein.“ Unterdessen hat Abraham schon weitergesprochen.
„Auf diesem Abschnitt wirst du Zeit haben, dich über den zurückgelegten Weg zu freuen, und wertzuschätzen, was du schon alles erreicht hast. Und wenn du ganz gut zuhörst, wirst du hören, dass auch die Vögel in den Bäumen ein Loblied auf dich singen.“ Du schmunzelst innerlich „Diese Ausdrucksweise passt schon besser zu ihm“.
„Die letzte Etappe ist die Krönung deiner Wanderung. Du wirst sehen: Der Wasserfall und die Aussicht auf die Welt von dort oben ist phänomenal. Das wird für dich mehr Sinn machen als alles je zuvor in deinem Leben.“ Du bedankst dich bei Abraham und jeder geht wieder seines Weges.
Bedürfnisse nach Maslow
Meines Wissens die erste und eine der bekanntesten Einteilungen stammt vom amerikanischen Psychologen Abraham Maslow. Er entwickelte in den 1940er Jahren ein Modell, das menschliche Bedürfnisse in Abhängigkeit zueinander darstellt. Du kennst es vielleicht schon in der vereinfachten Form als Bedürfnispyramide.
Die Bedürfnispyramide

Selbstverwirklichung: Persönliches Wachstum, Entfaltung, und Sinnfindung |
Individualbedürfnisse: Wertschätzung, Anerkennung (im Aussen wie im Inneren) |
Soziale Bedürfnisse: Austausch, Zugehörigkeit, Zuneigung, emotionale Nähe, Freundschaft und Liebe |
Sicherheitsbedürfnisse: Schutz, Stabilität, Sicherheit und Gesundheit |
Physiologische Bedürfnisse: Atmen, Essen, Trinken, Schlafen und Fortpflanzung |
Die drei unteren Stufen werden auch als Defizitbedürfnisse bezeichnet. Laut Maslow müssen sie erfüllt sein, damit wir eine Grundzufriedenheit verspüren. Ohne diese können wir uns nicht auf die sogenannten Wachstumsbedürfnisse der 4. und 5. Stufe konzentrieren.
Im Gegensatz zu den unteren Stufen, können die Wachstumsbedürfnisse wohl nie vollständig erfüllt werden, da wir uns im Leben unaufhörlich weiterentwickeln.
Die Darstellung der Bedürfnispyramide ist ein nützliches Modell, aber wie vermutlich die meisten Modelle, nicht über alle Zweifel erhaben. Sie suggeriert, dass die Grenzen zwischen den Kategorien fix sind.
Die Bedürfnisse der zweiten Stufe können aber bereits dann auftreten, bevor jene der ersten vollständig gedeckt sind. Man spricht von einem benötigten Erfüllungsgrad von 70%. (Wie auch immer das quantifiziert wurde…)
Es ist genau, wie dir Abraham den Weg zuvor geschildert hat. Der zweite Abschnitt deiner Wanderung hat es tatsächlich in sich, und du bist froh um deine hilfreichen Wanderstöcke, die dir etwas Sicherheit und Stabilität geben. Irgendwann triffst du auf das versprochene Waldhaus. Ächzend legst du deinen Rucksack ab und setzt dich erleichtert auf eine der vielen Bänke bei der Hütte. Die Atmosphäre wirkt sehr einladend und tatsächlich sitzen da einige Mitwanderer, die sich untereinander austauschen.
Der Herr vis-à-vis mustert dich neugierig und streckt dir zur Begrüssung die Hand entgegen. „Klaus Grawe mein Name“ sagt er in akzentfreiem Hochdeutsch. Er ist auch nicht mehr der Jüngste, aber mindestens 30 Jahre jünger als Abraham.
Du erzählst ihm vom beängstigenden zweiten Wegabschnitt, der dich ziemlich beeindruckt hat. Er fragt daraufhin, ob du den Weg kennst oder ob du das erste Mal da seist. Du antwortest, dass du noch nie hier warst, und schilderst, wie dein Kompass verrückt gespielt, und dir Abraham freundlicherweise den Weg gewiesen hat.
Er zieht leicht die linke Augenbraue hoch und erwidert: „Ach so, ja natürlich. Abraham geht von anderen Voraussetzungen aus als ich. Es gibt noch einen anderen Weg, auf dem man diese gefährlichen Passagen meiden kann.“
Aufmerksam bemerkt er dein Erstaunen und erklärt: „Weisst du, jedes Mal, wenn ich an der Weggabelung stehe, entscheide ich mich von Neuem. Wähle ich den abenteuerlichen Weg über diese schwummerige und baufällige Brücke oder den sicheren, der etwas länger dauert?
Weisst du was? Ich wähle eigentlich immer den längeren Weg. Einerseits ist mir meine Sicherheit wichtiger als das Abenteuer und andererseits geht es viiiel einfacher, den Weg zu nehmen, den ich kenne. Sich auf etwas Neues und Unbekanntes einzulassen kann furchtbar anstrengend sein.“
Bedürfnisse nach Grawe
Klaus Grawe schlug in den 1980er Jahren in seiner Konsistenztheorie eine alternative Einteilung vor. Sie verzichtet auf die hierarchische Gliederung und lässt die körperlichen Bedürfnisse des Menschen aussen vor (also die erste Stufe bei Maslow). Er konzentriert sich lediglich auf die psychischen Grundbedürfnisse.
Orientierung & Kontrolle
😃 Autonomie, Selbstbestimmung, Verstehen, Einfluss haben
☹️ Angst, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Abhängigkeit
Lustgewinn & Vermeidung von Unlust
😃 Wohlbefinden
☹️ Langeweile, Öde, Stress, Überlastung
Selbstwerterhöhung & Selbstwertschutz
😃 Kompetenzerleben, Leistungsstreben
☹️ Minderwertigkeitsgefühl, Scham, Missachtung
Bindung & Anerkennung
😃 Zugehörigkeit, Liebe
☹️ Einsamkeit, Ausgrenzung
Grawe betont, dass alle Bedürfnisse gleichwertig sind und sie deshalb auch gleichzeitig wirksam sein können. Der menschliche Organismus strebt danach, all diese Prozesse miteinander zu vereinbaren. Je besser ihm das gelingt, desto stärker und gesünder ist der Organismus.
Die parallel laufende Wirkung unterschiedlicher Bedürfnisse birgt allerdings das Risiko, dass sie sich gegenseitig im Weg stehen. Dadurch entsteht eine Inkonsistenz, die einen stark hemmenden und blockierenden Einfluss haben kann.
Als Beispiel: Eine Person will sich beruflich neu orientieren, hat aber Angst vor Unsicherheit (Grundbedürfnisse im Konflikt: Lustgewinn vs. Sicherheit). Die Chance ist gross, dass sich diese Person in dieser Situation im Kreis dreht.
Während bei Maslow der Kompass im vereinfachten Modell höchstens bei Bedürfnissen der gleichen Stufe verrückt spielt (z.B. Hungergefühl und Müdigkeit), kann er im Modell von Grawe also in jeder denkbaren Kombination durchdrehen, da sie alle auf derselben Stufe angesiedelt sind.
Du siehst, dass noch weitere Herren anwesend sind (ja, ich glaube, es waren ausschliesslich Männer), die dir etwas zum Wasserfall Erdbisenfuse erzählen könnten. Trotzdem priorisierst du dein Bedürfnis nach Selbstbestimmung über jenes der Bindung und entscheidest dich für den Aufbruch.
Tatsächlich zeigt sich der vierte Abschnitt von der angenehmsten Seite. Du fühlst dich toll, weil du’s bereits so weit geschafft hast. Mit Recht bist du stolz darauf, dass du deine Komfortzone verlassen und die Hängebrücke bewältigt hast!
Es ist wirklich, als ob die vielen Vögel ihre Anerkennung aus den Bäumen auf dich herunter zwitschern. Dass du diesen Weg nicht ganz freiwillig gewählt hast, ist ihnen völlig egal. Du hättest schliesslich auch umkehren können – hast du aber nicht.
Langsam hörst du ein leises Plätschern. Der fünfte Streckenabschnitt bringt dich dem Wasserfall immer näher. Obwohl es ein unwegsamer und steiler Pfad ist, fühlst du dich beflügelt und frisch. Das leise Plätschern ist zu einem beeindruckenden Rauschen geworden – du bist da.
Müde aber glücklich geniesst du die wunderbare Aussicht. Du spürst das überwältigende Gefühl von Freiheit und erkennst den Sinn deines Daseins. Ein wunderbares Gefühl, dort oben zu stehen, nicht wahr?
Für Eingeweihte, die ihn in unserem Online-Programm „Schatzsucher*in“ besucht haben, heisst der Erdbisenfuse übrigens auch der Wasserfall der Bedürfnisse.
Weg von der Bedürfnispyramide, hinein ins wahre Leben
Die Einteilung der menschlichen Bedürfnisse in einzelne Kategorien ist in meinen Augen gar nicht so einfach. Bedürfnisse und ihre Priorisierung sind sowohl von individuellen als auch sozialen und kulturellen Faktoren geprägt, was die Sache nicht vereinfacht.
Ich denke, eine solche Einteilung ist immer die Frage des Blickwinkels. Am Ende des Tages scheint mir eine universell gültige Kategorisierung deshalb unmöglich zu sein. Trotzdem geben die beiden Modelle in meinen Augen einen guten Hinweis, worum es geht, wenn wir von Bedürfnissen sprechen.
Denn dass Bedürfnisse existieren und sie wichtig sind, ist unumstritten.
Die Verbindung zwischen Bedürfnissen und Wachstum
Jedes Bedürfnis, das wir erfüllen, eröffnet uns wieder neue Möglichkeiten für Entwicklung. Solange sich unser Fokus auf die Grundbedürfnisse richten muss, entsteht allerdings wirklich wenig Freiraum für höhere Ziele.
Erst wenn diese Bedürfnisse bis zu einem gewissen Grad erfüllt sind, verfügen wir über ein stabiles Fundament für unsere Weiterentwicklung. Dann erst können wir uns vertieft Themen widmen wie unserer Selbstverwirklichung oder der Suche nach einem tieferen Lebenssinn.
Das dauert allerdings auch nur so lange an, wie das Fundament stabil bleibt. Wird es durch ein Ereignis erschüttert, werden sich unsere Bedürfnisse zwangsläufig an die neue Situation anpassen.
Solche Veränderungen zu erkennen und auf sie einzugehen, erfordert einiges an Achtsamkeit und Flexibilität.
Zufriedenheit durch das Befriedigen von Bedürfnissen
Die bewusste Befriedigung unserer Bedürfnisse ist ein zentraler Baustein für unsere Zufriedenheit und unser Glück. Wenn wir uns Zeit nehmen, um zu verstehen, was uns wirklich wichtig ist, fällt uns das Leben leichter:
- Physiologische Bedürfnisse: Ein nahrhaftes Essen oder erholsamer Schlaf vermittelt uns ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit und Regeneration.
- Soziale Bedürfnisse: Das Teilen von Emotionen oder ein aufrichtiges Gespräch mit einem Freund gibt uns das Gefühl, verbunden zu sein.
- Wertschätzung: Anerkennung für unsere Leistungen oder persönliche Stärken stärkt unser Selbstwert und motiviert uns, weiterzugehen.
Die Balance zwischen Bedürfnissen und Zielen
Persönliches Wachstum liegt oft im Spannungsfeld zwischen kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung und langfristigen Zielen. Zum Beispiel:
- Das Bedürfnis nach Sicherheit kann uns daran hindern, Risiken einzugehen, die jedoch nötig sind, um beruflich oder persönlich voranzukommen.
- Das Bedürfnis nach Autonomie könnte dazu führen, dass wir Hilfe ablehnen, auch wenn wir sie eigentlich brauchen, um voranzukommen.
Damit sich eine gesunde Balance einstellen kann, sollten wir uns Gedanken über die Priorisierung unserer Bedürfnisse machen.
Erst wenn wir lernen, unsere Bedürfnisse so zu erfüllen, dass sie mit unseren Werten und Zielen im Einklang stehen, wird ein langfristiges Ziel überhaupt erreichbar.
Falls du dich eingehender mit deinen Bedürfnissen auseinandersetzen möchtest, findest du im Artikel „Warum Bedürfnisse im Leben so wichtig sind“ weitere Informationen und 10 hilfreiche Tipps, wie du ihnen auf die Spur kommst!